„Eine Grundidee von Bessarabien vor rund 200 Jahren war, dass unterschiedliche Völker hierherkommen, ihr Wissen mitbringen, es teilen und sich gegenseitig wirtschaftlich und kulturell bereichern“, sagt Elena Menshykova. Wir stehen vor der Sonne geschützt unter einem der vielen Bäume auf dem Marktplatz von Tarutyne, 150 Kilometer südwestlich von Odesa, im Herzen Bessarbiens. An uns laufen lachende Menschen in bunten traditionellen Kostümen vorbei, der Geruch nach Gegrilltem schwebt in der Luft, Musik aus allen Richtungen lädt zum Tanzen ein. Wir befinden uns mitten auf dem „Bessarabskij Jarmarok“, einer Art Jahrmarkt der Kulturen und dem wichtigsten Fest des Jahres. Dort werde ich heute die „Grundidee“, von der Germanistin Elena Menshykova spricht, erleben.
Anfang des 19. Jahrhunderts lud Zar Alexander I. verschiedene Völker ein, um sich in „Südrussland“ niederzulassen. Dort waren nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1806-1812) ostmoldauische Gebiete an das Russische Zarenreich gefallen und sollten dichter besiedeln werden. Bis heute leben in der Ukraine nahe der Grenze zur Republik Moldau Nachkommen dieser Bulgar:innen, Moldauer:innen, Rumän:innen, Russ:innen, Ukrainer:innen und Gagaus:innen. Sie sprechen verschiedene Sprachen, feiern unterschiedliche Feste. „Nationalität und Staatsbürgerschaft sind hier zwei unterschiedliche Dinge“, sagt Elena Menshykova. Seit fünf Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit der Kulturgeschichte Bessarabiens und leitet als Dekanin an der Staatlichen Polytechnische Universität in Odesa internationale Projekte. „Natürlich sind alle ukrainische Staatsbürger. Aber fragt man nach ihrer kulturellen, ethnischen Identität, trifft ‚ukrainisch‘ nur auf die hier in der Minderheit lebenden Ukrainer zu“, erklärt sie. „Jeder ist stolz auf seine Herkunft und es ist selbstverständlich, dass sie gepflegt und offen gezeigt wird. Gleichzeitig spricht hier jeder mindestens drei Sprachen fließend“, sagt Elena Menshykova in perfektem Deutsch. Das war auch schon im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts so, als Tarutyne ein wichtiger Wirtschaftsstandort war und sein Jahrmarkt dem Handel von Waren und Tieren diente. Zwei Sprachen jedoch, die damals häufig in Bessarabien zu hören waren, sind heute fast völlig aus der Region verschwunden: das Deutsche und das Jiddische.
Dabei bildeten die Deutschen in Orten wie Tarutyne einst die Mehrheit, gefolgt von jüdischer Bevölkerung. Sie kamen ebenso wie die anderen neuen Siedler:innen ab 1812 nach Bessarabien. Die meisten stammten aus Südwestdeutschland und Preußen und waren Handwerker oder erfahren in der Landwirtschaft. Sie gründeten wirtschaftlich schnell florierende Kolonien und standen in friedlichem Austausch mit anderen Neuankömmlingen und Einheimischen, lernten voneinander und respektieren gegenseitig Sitten und Bräuche.
Viele Umbrüche bestimmten seitdem die Geschichte der Region, die heute in Teilen zur Ukraine, der Republik Moldau und Rumänien gehört. Sie betrafen auch die Deutschen. 1873 wurden ihre Selbstverwaltung und ihre Privilegien – wie die Befreiung vom Militärdienst – aufgehoben. 1918 kam Bessarabien unter rumänische Führung. Eine Agrarreform in den 1920ern ließ Deutsche rund 25 Prozent ihres Landbesitzes verlieren. Immer wieder wanderten deshalb Bessarabiendeutsche aus. Laut Volkszählung von 1930 machten sie 2,8 Prozent an der Gesamtbevölkerung Bessarabiens aus, die insgesamt rund 2,8 Millionen Menschen zählte. Die Mehrheit stellte damals die moldauische, rumänischsprachige Bevölkerung, gefolgt von Russ:innen, Ukrainer:innen, Bulgar:innen, Gagaus:innen, Roma und 7,2 Prozent Jüd:innen.
Nach fast 130-jähriger Geschichte verschwanden im Oktober 1940 die Deutschen plötzlich aus der Südukraine. In einem geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt (Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 erklärte die deutsche Seite ihr Desinteresse an Bessarabien. Die Region fiel anschließend an die Sowjetunion. Darum mussten die Deutschen bis Oktober 1940 das nun von der Roten Armee besetzte Gebiet verlassen. Sie wurden absichtlich nicht gemeinsam, sondern an verschiedenen Orten des damals vom NS-Regime besetzten Polen angesiedelt: Die rund 93.500 Nachkommen der deutschen Siedler:innen aus Bessarabien sollten im „deutschen Volkskörper“ aufgehen. Ebenso wie die einige Jahre später umgesiedelten Schwarzmeer- und Wolhyniendeutschen waren die Deutschen aus Bessarabien in den Fleischwolf des Zweiten Weltkrieges geraten, wurden zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland zermalmt. Nach Ende des Krieges flüchtete ein Teil von ihnen in die bald entstehende Bundesrepublik Deutschland DDR. Ein anderer Teil fiel in die Hände der Sowjets und kam nach Sibirien und Zentralasien, um dort als Volksfeinde, „Niemzy-Faschisty“, Zwangsarbeit zu leisten.
Auch ein Drittel der jüdischen Bevölkerung verschwand auf grausame Weise während der rumänisch-deutschen Besatzung Bessarabiens. In zahlreichen Massakern wie im Sommer 1941 in Tarutyne, bei dem 350 Menschen starben, wurden Jüdinnen und Juden erschossen oder bei lebendigem Leib verbrannt. Die Überlebenden wurden in Todesmärschen in das rumänisch okkupierte Transnistrien getrieben, die meisten starben dort in Lagern. Der Antisemitismus in der Sowjetunion ließ jüdisches Leben auch nach Ende des Krieges nur zaghaft wieder aufkommen, was für diese Menschen mit dem Verlust der religiösen Zugehörigkeit und der jiddischen Sprache einherging. Einige wanderten in den 1970ern nach Israel oder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland aus.
Auch über zwei Millionen Russlanddeutsche verließen die Länder der ehemaligen Sowjetunion Richtung Deutschland, die meisten von ihnen in den 1990er Jahren. Es gelang nämlich nur sehr wenigen vertriebenen oder durch Stalin deportierten Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, in die Ukraine zurückzukehren. Heute leben insgesamt nur noch etwa 30.000 Menschen in der Ukraine, die sich als ethnisch deutsch bezeichnen – vor dem Zweiten Weltkrieg waren es fast eine Million.
„Viele Menschen in der Ukraine und auch in Deutschland wissen nicht, dass Deutsche früher eine wichtige Rolle in der Süd- und Westukraine oder auf der Krim gespielt haben und das Land kulturell und wirtschaftlich stark mitgeprägt haben“, sagt Elena Menshykova. Deshalb setzt sich die Wissenschaftlerin zusammen mit Kolleg:innen anderer Universitäten in unterschiedlichen Projekten seit einigen Jahren dafür ein, dass die deutsche Geschichte Bessarabiens sichtbarer wird und erhalten bleibt.
Eine Gruppe junger Frauen in weißen, bunt bestickten Gewändern und Blumenkränzen auf den Köpfen beginnt neben uns zu singen. Wir sind im „Ukrainischen Hof“ angekommen, jede in Tarutyne und Umgebung lebende ethnische Gruppe präsentiert sich auf dem heutigen Fest mit typischem Haus in Miniatur, traditionellen Speisen und kulturellen Besonderheiten wie Zeremonien oder Tänzen. „Wenn wir hier sehen, wie Menschen verschiedener Nationen umeinander tanzen und sich gegenseitig Essen anbieten, das ist genauso wie es früher war, als Bessarabien ein bunter Teppich aus vielen Kulturen war“, sagt Elena Menshykova. „Und heute ist es eigentlich noch immer so“, ergänzt sie und führt mich wie zum Beweis zum bulgarischen, moldauischen, rumänischen, russischen und gagausischen Hof.
Schließlich erkenne ich von weitem „Herzlich willkommen“ auf einem Banner, dahinter eine ukrainische und deutsche Fahne. Sie zieren das „Deutsche Haus“, wie ich einer Aufschrift über der Tür entnehme. Junge und ältere Menschen, die meisten in traditionellen Trachten, stehen auf dem holzumzäunten mit Blumen und Strohballen dekorierten Platz, unterhalten sich. Viele von ihnen sind Nachkommen deutscher Siedler:innen oder einfach an der deutschen Geschichte Interessierte, wie ich aus Gesprächen erfahre. Mittendrin macht sich eine Tanzgruppe bereit und führt kurz nach unserer Ankunft einen für die deutschen Kolonist:innen typischen Tanz auf.
Einen besonderen Grund zum Feiern haben die Menschen im „Deutschen Hof“ heute auch. Die ehemalige Nachbarkolonie Katzbach, heute Luschanka, feiert nämlich ihre Gründung vor 200 Jahren. Ein Banner informiert die Besucher:innen des Hofes über die Geschichte der Kolonie. Der Hobbyhistoriker Wladimir Kubjakin hat die Geschichtschronik in einem Kalender mit vielen Bildern zusammengestellt. Andere Banner zeigen in schwarz-weißen Fotografien und kurzen Texten Tarutyne, als die Stadt noch die größte und wirtschaftlich bedeutendste deutsche Kolonie des zaristischen Südrusslands war. Es ist laut geworden um uns: Offizielle Verter:innen aus Odessa und der Region sind im Hof angekommen, mit ihnen viele Medienvertreter:innen und Jahrmarktgäste.
Seit 1940 bis zum Ende der Sowjetunion war die Geschichte der Deutschen Bessarabiens aus dem Mosaik der Region herausgetrennt, lag als einzelner Splitter verstaubt in einem Keller. Sie in die Hand zu nehmen, war gefährlich. Heute fügt sich diese Geschichte wieder ein, macht das Mosaik bunter, vollständiger und die Idee Bessarabiens von einer Region vieler Kulturen lebendig.
Wie schön das diese Zeit, die meine Vorfahren dort in Bessarabien gelebt haben nicht in Vergessenheit gerät. Das es wieder möglich ist, darüber informiert zu werden, Traditionen gepflegt werden und ein friedvolles Miteinander möglich ist.
Liebe Rosemarie, es ist wirklich wunderschön zu sehen, dass die Grundidee Bessarabiens heute wieder offen gelebt werden kann. Ich wünsche der Region und der Ukraine sehr, dass sie sich diese Offenheit und Buntheit bewahrt. Viele liebe Grüße und danke für deine Aufmerksamkeit, Ira
Liebe Ira, meinst Du dass wir einmal zu Besuch dorthin kommen können. Finden wir Unterkunft und eventuell jemanden der uns nach“ Friedensfeld „fährt. Mein Großvater hat dort mit seiner großen Familie gelebt .Mein Neffe Jan spricht ganz gut russisch. Wir wären dann auch nicht ganz ohne Dolmetscher.
Liebe Rosemarie, natürlich und ganz unbedingt solltet ihr sogar hinreisen 🙂 Unterkunft, Fahrer und Menschen, die euch vor Ort helfen – ich kenne für solche Reisen kein besseres Land als die Ukriane, denn die Menschen hier sind zum einen sehr interessiert an deutscher Geschichte, es gibt also immer Kenner:innen. Zum anderen sind die meisten wahnsinnig hilfsbereit. Wartet nicht und kommt bald 🙂
Vielen Dank für den wunderbaren Bericht, meine Großeltern kamen beide aus Bessarabien, leider sind beide verstorben aber ich koche regelmäßig bessarabische Gerichte die mir meine Oma als Kind gezeigt hat. .Strudeln, Schmandborscht etc.
Schön das es Menschen gibt die im Land meiner Vorfahren noch die Traditionen weitergeben.
Liebe Heike, danke für diese schöne Nachricht. Bessarabien ist bezaubernd und hat einen sofort gefangen. Diese Vielfalt, diese Menschen! Ich hoffe, Sie können auch mal hinreisen. Viele liebe Grüße aus Lviv, Ira
Meine Vorfahren, Meine Mutter, kam aus der Dobrudscha, daher auch das Interesse. Viele deutsche Bessaraber verließen schon Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jhd. Bessarabien, auf der Suche nach Land, der Militärpflicht zu entgehen und aus verschiedenen anderen Gründen. Auch die Vorfahren meiner Mutter kamen aus der Region Cherson über Bessarabien in die Dobrudscha.
Danke für Deinen Bericht Ira.
Odessa haben bisher nur einmal besucht. Es wir wieder Zeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und das Lesen sowie Teilen Ihrer Familiengeschichte, die bezeichnend ist für die Reise der Bessarabiendeutschen. Odesa wartet auf Sie 🙂
AUF BESSARABIENS AHNENSPUREN
Wie die Vögel im Frühling wiederkehrend aus Süden
Erfreut ihre Heimat besuchen,
So besuche auch ich immer wieder und wieder
Dich, mein Schatz, meiner Vorfahren Land.
Hier ist mein Vater geboren, Großvater ganz glücklich gewiss
Hat hier Korn angebaut… Mir fehlen die Worte:
Wofür bloß der Krieg Millionen von Herzen zerriss
Und verschleppte uns streuend in Welten und Orte?
Ich komme hierher nicht nach Wahrheit zu graben,
Weder Recht hier zu finden, noch Skandale zu klären,
Nur des Zaunes entlang will ich barfuß durchlaufen
Dort, wo Mama mit Liebe umarmte mich ferner.
Auf dem Hügel am Dnjestr, hier wachsen schön Trauben,
Mit Gewässern der Donau spielt schwappend die Sonne,
Hier schwärmt meine Seele bei Feuer am Abend:
Mein heimisches Land, Du hast mich gewonnen.
Damit wir dran denken, wo der Eltern Haus steht,
Damit wir Die lieben, die jetzt in ihm wohnen,
Dass auch niemand vergisst Bessarabiens Volk,
Bin ich hier jedes Jahr mit erfreutem Erfolg.
Autor: Viktor Fritz, im Mai 2017
Vielen Herzlichen Dank an Deutsches Kulturforum allgemein und an Ira Peter, Stadtschreiberin Odessa 2021, persönlich für hervorragendes Engagement in Sachen Völkerverständigung.
Ich bin sehr gerührt, herzlichen Dank für diese Gedanken, Worte, die Liebe zu den Eltern und Großeltern! Das spricht sicherlich vielen Bessarabiendeutschen aus der Seele!
Danke lieber Viktor für diese bewegenden Zeilen.
Dein Norbert Heuer
Liebe Ira Peter,
ein schöner Bericht! Ich kann nur hoffen, dass Orte wie Tarutyne eine Zukunft haben, verkehrstechnisch einmal besser erreichbar sind – und die „Brücke zur Vergangenheit“ weiter offen begangen werden kann.
Der zugewachsene und teilzerstörte deutsche Teil des Friedhofs ist in diesem Bezug wie ein Mahnmal. Das berichtete Fest mit dem „Deutschen Haus“ zeigt demgegenüber wieder Farbe und Hoffnung.
Alles Gute,
Niko Lamprecht, Geisenheim
Vielen Dank – wahre Worte. Hoffen wir darauf, dass das Kulturerbe erhalten bleibt und sich Bessarabien in jeglicher Hinsicht gut entwickelt.
Liebe Ira,
vielen Dank für den wundervollen Bericht aus der Heimat meiner Großeltern. Sie lebten in Klöstitz, mein Vater ist während der Vertreibung in Polen geboren. Wie gerne würde ich das Land dort einmal sehen, aber in der derzeitigen Situation ist völlig unklar, ob das überhaupt einmal wieder möglich sein wird. Meine Frau und ich haben bei uns zuhause eine ukrainische Frau mit ihren beiden Kindern und 2 Nichten aufgenommen.
Viele Grüße,
Achim
Wir waren zum Klassentreffen eines Mitschülers vom Thaerseminar aus Celle / Niedersachsen (D) in Bessarabien /Moldawien in Alexanderfeld und Alexandrovka. Es ist eine wunderbare Gegend und eine wirklich nette Bevölkerung . Nach der Besichtigung von einem großen landw. Betrieb mit Wein-und Kirschenanbau wurden wir dort bewirtet wie „Gott in Frankreich“. Und in Alexanderfeld kam gleich die Ortsvorsteherin /Bürgermeisterin und wir hörten einen Vortrag zur deutschen Geschichte mit anschließendem Besuch der Technikstation (viel deutsche landwirtschaftl. Technik) Wir wünschen allen Moldawiern Frieden und den demokratischen Weg in die EU . Hans-Hinrich Heuer (Landwirt in der Lüneburger Heide (D) PS Einen ganz ganz lieben Dank ….es wird uns unvergessen bleiben .
Meine Großeltern und meine Mutter stammten aus Paris in Bessarabien.Sie hießen Oelke.Ich habe immer davon geträumt die Heimat meiner Vorfahren zu besuchen.Meine Oma erzählte immer von zu Hause.Heute lebe ich in Kroatien der Heimat meines Mannes.Es wäre jetzt ein kurzer Weg.Leider ,leider ist dieser Weg in die Heimat meiner Familie jetzt versperrt.Es wird vermutlich mein Traum bleiben.